ERZlich Willkommen, liebe Freunde der Schutz-, Leit- und Elektrotechnik. In unserem heutigen Beitrag nehmen wir den Einstellwert für die Spannungsanregung von Erdschlussstufen unter die Lupe.
Viel Spaß beim Sehen und / oder Lesen und viel Erfolg!
Euer SCHUTZTECHNIK-TEAM
Lesebeitrag unter dem Video
Was jeder über Erdschlussschutz wissen sollte
Einleitung
Zur Bezeichnung des Parameters zur Einstellung der Spannungsstufe einer Erdschlussschutzfunktion existieren so viele Varianten, wie es Hersteller gibt. Sehr häufig wird dieser Einstellwert als Verlagerungsspannung, als Nullspannung oder auch als 3-fache Nullspannung bezeichnet. Der Begriff der "Verlagerungsspannung" ist nirgendwo definiert und kann unterschiedliche Größen meinen. Mit Verlagerungsspannung meinen wir die primäre Verstimmung im Sternpunkt, die sekundäre Verstimmung, welche an den in Reihe geschalteten Dreieckswicklungen der Spannungswandler gemessen werden kann oder auch die sekundäre Verstimmung, welche durch ein Schutzgerät über die Messung der Leiter-Erde-Spannungen aus den Sternwicklungen der Spannungswandler berechnet wird. Selbst damit sind wir noch nicht am Ende, so kann zum Beispiel auch die sekundäre Verstimmung eines einphasigen Erdungstransformators im Sternpunkt eines Generators als Verlagerungsspannung bezeichnet werden. Daran sehen wir, dass selbst die Unterscheidung in primäre und sekundäre Verlagerungsspannung immer noch eine große Unschärfe hinterlässt und wir mit dem Begriff Verlagerungsspannung eigentlich streng genommen immer nur ein Phänomen bzw. eine Eigenschaft der Spannungsverhältnisse beschreiben, welche Eintritt, wenn sich ein Erdschluss ereignet.
Was ist definiert?
Auch wenn ursächlich immer das gleiche Phänomen dahinter steckt, so ist elektrotechnisch sauber und mathematisch gesehen nur eine einzige Größe wirklich definiert, um die Verschiebung der Spannungen im Erdschlussfall richtig zu beschreiben. Dabei handelt es sich um die Nullspannung oder auch das Nullsystem der Spannung. Die Nullspannung beträgt immer ein Drittel der vektoriellen Addition der drei Phasenspannungen.
Wenn wir uns bei allen Betrachtungen an die Definition der Nullspannung halten, haben wir die besten Karten jeglichem Stress in der Kommunikation aus dem Wege zu gehen und die Zusammenhänge herstellerübergreifend zu verstehen.
Also diese Formel bitte auf die Wade tätowieren.
Schauen wir uns nun das gesamte Bild an einem Beispiel an.
Beispiel: "Der fehlerfreie Betrieb"
In der Abbildung sehen wir drei Spannungswandler mit jeweils einer Stern- und einer Dreieckswicklung.
Wir machen ein Zahlenbeispiel und gehen von einem 20-KV-Netz aus. Die Wandler haben eine klassische Übersetzung von 20 kV zu Wurzel 3, 100 Volt zu Wurzel 3 in den Sternwicklungen und 100 Volt zu 3 in den Dreieckswicklungen. Das Übersetzungsverhältnis der Sternwicklungen beträgt damit 200 und die Dreieckswicklungen haben mit 346,4 eine um Wurzel 3 größere Übersetzung als die Sternwicklungen.
In einem ersten Schritt betrachten wir nun die Spannungen im fehlerfreien Zustand. Die Leiter-Leiter-Spannungen der Primärseite betragen 20 kV, die Leiter-Erde-Spannungen liegen bei 11,55 kV. Die primäre Nullspannung kann theoretisch zwischen dem Sternpunkt des Trafos und der Erde gemessen werden und würde in etwa gegen null gehen.
Die Beträge der Leiter-Leiter- und Leiter-Erde-Spannungen der Sternwicklungen sehen wie folgt aus: Wir messen 100 Volt für die verketteten Größen und 57,7 Volt für die Leiter-Erde-Spannungen. Das angeschlossene Schutzrelais ist nun in der Lage, ein sekundäres Abbild der Nullspannung zu berechnen. Geschieht dies unter korrekter Verwendung der eingangs genannten Formel, so ist hier eine Nullspannung von 0 Volt messbar.
Für die Dreieckswicklungen gilt: Wir messen 33,3 Volt über den 3 Einzelwicklungen und an der gemeinsamen da-dn-Klemme der Reihenschaltung der Dreieckswicklungen messen wir 0 Volt. Das ist die Spannung, die unser Erdschlussrelais im fehlerfreien Zustand sehen würde. Die drei Teilspannungen, welche in der Praxis auch als Teil-en-Spannungen bezeichnet werden, sind um 120° phasenverschoben und ergeben in ihrer geometrischen Summe 0 Volt. Die Teil-en-Spannungen von 33,3 Volt entsprechen damit nicht den sekundären Leiter-Erde-Spannungen, sondern sind um Wurzel 3 kleiner. Wichtig ist hier zudem: Wir gehen momentan von idealisierten Größen aus, in der Praxis ist immer eine kleine Spannung von bis zu 15 Volt messbar, da Netzunsymmetrien unweigerlich zu leichten Verstimmungen führen.
Beispiel: "Erdschluss"
Wie sieht das Ganze jetzt im Erdschlussfall aus? Gehen wir davon aus, dass primärseitig ein satter Erdschluss in Leiter 1 eintritt. Daraufhin bricht die Leiter-Erde-Spannung in Phase 1 auf null zusammen und die Leiter-Erde-Spannungen der Phasen 2 und 3 laden sich auf einen um Wurzel 3 erhöhten Wert auf. Die daraus resultierenden Leiter-Erde-Spannungen betragen 20 kV. Zwischen dem Sternpunkt des Transformators und der Erde wäre nun theoretisch eine primäre Spannung von 11,55 kV messbar, welche zwar so physikalisch real anliegt, aber auch wieder nur sekundär gemessen werden kann. Wir halten also fest: Die primäre Nullspannung mit 11,5 kV entspricht betragsmäßig der Leiter-Erde-Spannung im fehlerfreien Betrieb.
Analog zu dem, was auf der Primärseite passiert, verhält es sich nun auf der Sekundärseite. Die Leiter-Erde-Spannung der Sternwicklung in Phase 1 bricht auf 0 Volt zusammen, während die Leiter-Erde-Spannungen der Phasen 2 und 3 auf ein neues Potenzial von 100 Volt angehoben werden. Wenn das Schutzrelais die sekundäre Nullspannung im Erdschlussfall definitionsgemäß berechnet, so erhalten wir 57,7 Volt. Dies entspricht in Analogie zur Primärseite wieder dem Betrag der Leiter-Erde-Spannung im fehlerfreien Betrieb.
Auf der Seite der Dreieckswicklungen stellen sich nun wieder die um Wurzel 3 abweichenden Größen ein. Die Teil-en-Spannung von Phase 1 bricht auf null zusammen. Die Teil-en-Spannungen der Phasen 2 und 3 erhöhen sich ausgehend von 33,3 Volt auf 57,7 Volt. Da sich zudem die Winkel der Zeiger um jeweils 30° aufeinander zubewegen, beträgt die resultierende Messspannung des Schutzrelais 100 Volt. Diese 100 Volt entsprechen dem Wurzel-3-fachen Betrag der sekundären Nullspannung von 57,7 Volt. Den Grund für den Unterschied finden wir in der Übersetzungsabweichung der Dreieckswicklungen.
Spannungen Sternwicklung bei Erdschluss
Eine andere Sicht der Dinge
Es wird zuweilen auch die umstrittene Ansicht vertreten, dass es sich bei der gemessenen Spannung von 100 Volt um die 3-fache Nullspannung handelt. Aus dieser Betrachtung resultiert allerdings der grobe Nachteil, dass wir keine eindeutig definierte sekundäre Nullspannung erhalten. Wir müssten hier immer zwischen der Nullspannung der Sternseite mit 57,7 Volt und der Nullspannung der Dreieckswicklungen mit 33,3 Volt unterscheiden. Das macht ehrlich gesagt nicht so viel Sinn. Es würde ja auch niemand auf die Idee kommen und die Teil-en-Spannungen von 33.3 Volt als sekundäre Leiter-Erde-Spannungen zu bezeichnen. Die Frage ist hier also immer, ob man die sekundäre Nullspannung der Dreieckswicklung im Kontext der gesamten Messanordnung sieht oder ob man sie mit einer gewissen Egozentrik zum Maß der Dinge erklärt. Unter Berücksichtigung ästhetischer Aspekte ist es in jedem Fall vorteilhaft, die Vogelperspektive beizubehalten.
Was meint "Verlagerungsspannung" ?
Und jetzt, nachdem wir die gesamte Theorie geklärt haben, schauen wir uns noch kurz an, welche Größen in der Praxis so gemeint sein können, wenn man nicht ganz randscharf von der "Verlagerungsspannung" im Erdschlussfall spricht. Da gibt es nämlich gleich drei Möglichkeiten: So wird die an der da-dn-Klemme der Dreiecksseite gemessene Spannung von 100 Volt als Verlagerungsspannung bezeichnet. Außerdem wird die aus den Leiter-Erde-Spannungen der Sternwicklungen berechnete Spannung von 57.7 Volt als Verlagerungsspannung bezeichnet. Zu guter Letzt wird auch einfach nur die geometrische Summe der drei Leiter-Erde-Spannungen der Sternseite gebildet und als Verlagerungsspannung bezeichnet.
Gemäß der Definition für die Nullspannung handelt es sich hierbei dann natürlich um die 3-fache Nullspannung mit einem Wert von 173,2 Volt.
Zusammenfassung
Zusammenfassend stellen wir also fest: Mit der Vokabel "Verlagerungsspannung" kann sowohl ein Wert von 57,7 Volt, ein Wert von 100 Volt oder auch ein Wert von 173,2 Volt gemeint sein und wir haben es mit einem Sammelbegriff zu tun. Zudem werden die unter diesem Sammelbegriff vereinten Größen gern als Nullspannung oder auch 3-fache Nullspannung bezeichnet, je nachdem, was gerade am besten passt.
Das aus den unterschiedlichen Bedeutungen auch unterschiedliche absolute Einstellwerte resultieren, liegt auf der Hand. Welche das sind, welcher Hersteller welche Bezeichnungen verwendet und was damit gemeint ist, erfahrt Ihr in unserem neuen Vor-Ort-Training "Parametrierung & Prüfung von Schutzsystemen".
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