ERZlich Willkommen liebe Freunde der Schutz- und Leittechnik, heute begeben wir uns hinab in den mystischen Bereich der Niederspannung. In ihrem neuen Gastbeitrag geben uns Roland Bürger (MBS AG) und Jürgen Blum (A. Eberle GmbH) einen interessanten Einblick in das Thema Oberschwingungen und zeigen zudem einige Lösungsansätze im Bereich der Power-Quality-Messungen. Viel Spaß beim Lesen, wir übergeben!
Änderungen in der Erzeugungs- und Verbraucherstruktur
In den letzten Jahren wurde der Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland massiv gesteigert. Mittlerweile sind Windkraftanlagen, Biomassekraftwerke, Photovoltaikanlagen und Wasserkraftwerke mit ca. 30 Prozent am Strommix in Deutschland beteiligt.
Anders als in herkömmlichen Kern- oder Kohlekraftwerken werden hier für die Bereitstellung der elektrischen Energie keine reinen Synchrongeneratoren sondern Frequenzumrichter bzw. Wechselrichter eingesetzt. Eine saubere Sinuskurve wird hierbei oftmals nicht erreicht.
Die Verzerrungen sind auf die schaltenden Halbleiterbauelemente im Wechselrichter zurückzuführen. Bei den so generierten Oberschwingungen handelt es sich um ganzzahlige Vielfache der Grundschwingung und können weit in den einstelligen Kiloherzbereich reichen. Der Total Harmonic Distortion (THD) Faktor(1) gibt den unerwünschten Verzerrungsgrad der 50 Hz Sinusschwingung an und erreicht nicht selten Werte zwischen 10 und 30 %.
Neben den auf der Erzeugerseite generierten Oberschwingungen durch Wechselrichter fand in den letzten Jahren auf der Verbraucherseite ebenfalls ein Wandel statt. Nicht-lineare Verbraucher wie LED- oder Energiesparlampen verdrängen lineare Verbraucher, wie die herkömmliche Glühbirne, fast gänzlich aus unserem Alltag.
Auch Steckernetzteile von Handys und Laptops bestehen nicht mehr aus kleinen Transformatoren sondern aus Halbleiterschaltungen, so genannten Schaltnetzteilen. Anders wären die kleinen und leichten Netzteile nicht zu realisieren. Neben diesen Vorteilen gibt es aber einen entscheidenden Nachteil. Die Stromentnahme aus dem öffentlichen Stromversorgungsnetz erfolgt nicht wie bei einem herkömmlichen Transformator sinusförmig sondern impulsartig. Dies verdeutlicht die folgende Abbildung.
(1) Der THD setzt den Anteil der Oberschwingungen ins Verhält zur Grundschwingung
Der im Schaltbild erkennbare Siebkondensator glättet nicht nur die gewünschte Ausgangsspannung sondern wird auch von den Gleichrichterdioden impulsartig nachgeladen. Diese steilen Stromspitzen erzeugen zum einen Blindleistung und zum anderen Oberschwingungen.
Normen regeln Grenzwerte – nicht immer!
Es gibt bereits ein entsprechendes internationales Normgerüst, welches die Oberschwingungsströme bei Endgeräten mit einer Leistungsaufnahme von > 75 W begrenzt. Geräte unter 75 W werden normativ derzeit nicht erfasst. Aus Kostengründen verzichten die Hersteller meist auf Filtermaßnahmen oder aufwendige Power Factor Correction. Auch bei Leuchtmitteln greift das Normenwerk EN 61000-3-2 erst ab 25 W. Bei Energiesparlampen sind beispielsweise THDI Werte von 30 bis 70 % und mehr während der Anlaufzeit und im Dauerbetrieb keine Seltenheit. Zusätzlich muss beachtet werden, dass die Normen, wenn sie denn greifen, nur Grenzwerte bis 2 kHz festlegen. Dadurch haben Hersteller in der Vergangenheit bei der Entwicklung von elektronischen Produkten im Frequenzbereich > 2 kHz kaum für Entstörung gesorgt.
Dazu werden im Industriesektor immer mehr elektrische Motoren mit variabler Frequenz-Antriebstechnologie eingesetzt. Bereits heute liegt der Anteil bei den verkauften E-Motoren mit frequenzgesteuertem Antrieb bei ca. 40 %. Hier wird zum größten Teil die Pulsweitenmodulationstechnik eingesetzt, die THDI-Werte im Bereich von 100 bis 120 % generieren kann. Bei diesen Werten sind saubere Sinuskurven kaum noch zu erkennen.
Es kann konstatiert werden, dass aufgrund der vielen Vorteile der Leistungselektronik eine Rückkehr zu linearen Verbrauchern wie beispielsweise der herkömmlichen Glühbirne ausgeschlossen ist. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die Oberschwingungsbelastungen in den europäischen Netzen aufgrund des Ausbaus der alternativen Energieträger und der Zunahme nicht-linearer Verbraucher weiter zunimmt. Auch sollte bedacht werden, dass viele Verbraucher, die normativ nicht reglementiert werden, in der Summe erhebliche Störungen verursachen können.
In Bürogebäuden, in denen lediglich Rechner, Telefonanlagen und energieeffiziente Leuchtmittel betrieben werden, mussten bereits Filteranlagen installiert werden, um die Oberschwingungsprobleme unter Kontrolle zu bringen.
Auswirkungen von Stromoberschwingungen
Für den Netzbetreiber sind vor allem die wirtschaftlichen Auswirkungen von Oberschwingungen interessant. Bei Oberschwingungsströmen sind in erster Linie folgende Phänomene zu nennen(2):
🌐 Überlastung von Neutralleitern
🌐 Störende Geräuschentwicklung (im Frequenzbereich bis 16kHz für das menschliche Ohr)
🌐 Überhitzung von Transformatoren
🌐 Fehlauslösung von Leistungsschutzschaltern / Leistungsschaltern
🌐 Überbeanspruchung von Kompensations-Kondensatoren
🌐 Skineffekte
Der wichtigste Punkt ist aber, dass die durch nicht-lineare Verbraucher verursachten Stromoberschwingungen die Spannungsqualität nachhaltig beeinflussen. Es besteht die Gefahr, dass die Produktqualität der Versorgungsspannung nicht mehr die erforderliche EN 50160 einhält. Hier sind Spannungsoberschwingungen in der Amplitude und als THDU (max. 8 %) definiert. Wird diese Produktnorm seitens des EVU nicht eingehalten, wird letztendlich der Stromliefervertrag verletzt, der in der überwiegenden Anzahl der Fälle auf die EN 50160 verweist. In der folgenden Abbildung ist nachvollziehbar, dass auch die Spannungsqualität in einem Versorgungssystem lediglich durch Bezugsanlagen mit nicht-linearen Verbrauchern negativ beeinflusst werden kann.
(2) Schneider Electric Wiki (Abruf am 9.01.2018) http://de.electrical-installation.org/dewiki/Wirtschaftliche_Auswirkungen#St.C3.B6rungsausl.C3.B6sung_und_Anlagenausfall
Der in der EN 50160 definierte Grenzwert des Verzerrungsfaktors (THDU) von 8 % ist im internationalen Vergleich relativ großzügig. Das amerikanische Pendant sieht für kritische Infrastruktur wie Krankenhäuser und Flughäfen deutlich geringere Grenzwerte vor. Dies ist nicht ganz unbegründet. Erreicht der Verzerrungspegel in der Versorgungsspannung einen Wert > 10 %, wird die Lebensdauer der Betriebsmittel erheblich verkürzt. Die Verkürzung wird auf folgende Werte geschätzt:
🌐 32,5 % bei 1-phasigen Maschinen,
🌐 18 % bei 3-phasigen Maschinen,
🌐 5 % bei Transformatoren.
Um die Lebensdauer entsprechend der Nennlast zu erhalten, müssen die genannten Betriebsmittel überdimensioniert werden. Aber auch dann sind Störungen nicht ausgeschlossen.
Normative Regelung für Verteilnetzbetreiber
Die nachteiligen Auswirkungen von Stromoberschwingungen auf die Spannungsqualität werden in der aktuellen VDE-AR-N 4100 Rechnung getragen. Hier wird unter Punkt 5.4.4.3 auf zu kontrollierende Oberschwingungsströme bis 9 kHz hingewiesen. Neben Erzeugungsanlagen sind jetzt ebenfalls notwendigerweise Bezugsanlagen und Speicher mit eingeschlossen. Maßnahmen zur Reduzierung der Oberschwingungsströme – insbesondere der Bau von Filterkreisen – sollen durch den Kunden in Absprache mit dem Netzbetreiber erfolgen. Dementsprechend ist zukünftig davon auszugehen, dass permanente Strommessungen bis 9 kHz flächendeckend in der Niederspannung durchgeführt werden.
Im Gesamtzusammenhang mit der gestiegenen Anzahl an dezentralen Energieerzeugungsanlagen und den nicht-linearen Verbrauchern kann dies als sehr sinnvoll beurteilt werden. Für die Netzbetreiber und deren Kunden ist Messequipment erforderlich, das die Oberschwingungsströme bis 9 kHz verlässlich abbildet.
Stromwandler bis 20 kHz
Die MBS AG bietet für Messungen bis 20 kHz ein großes Portfolio an Stromwandlern, die zum einen eine hochgenaue Übertragung bis 20 kHz gewährleisten und zum anderen thermisch für den Einsatz in oberschwingungsbelasteten Netzen ausgelegt ist.
Die Ausgangssignale sind, wie bei induktiven Stromwandler gem. der IEC 61869-2 gewohnt, 1 oder 5 A. Die Leistungsangaben entsprechen ebenfalls den üblichen Werten. Der Wandler kann somit auch in herkömmlichen 50 Hz Anwendungen eingesetzt werden. Über ein zusätzliches Leistungsschild wird das Frequenzübertragungsverhalten definiert.
Power Quality Analyzer bis mindestens 9 kHz
Bei der Wahl der Power Quality Analysatoren haben sich die stationären Geräte PQI-DE und PQI-DA smart von der A. Eberle GmbH aus Nürnberg bewährt, die nahezu alle erforderlichen Messaufgaben in elektrischen Netzen erfüllen können.
Die Geräte können sowohl als Power Quality Interface nach Netzqualitätsnormen wie IEC 61000-2-2 / EN 50160 oder auch zur Überprüfung der technischen Anschlussrichtlinien wie DIN VDE AR 4110 und DIN VDE 4120 uvm. verwendet werden. Durch die verfügbaren offenen SCADA Standardschnittstellen wie Modbus RTU/TCP als auch IEC 61850 können die Geräte parallel zur lückenlosen Aufzeichnung von Messwerten über einen sehr langen Zeitraum zudem als hochgenauer Messumformer für alle physikalisch definierten Messgrößen in Drehstromnetzen verwendet werden.
Neben der Möglichkeit von Standardauswertungen besitzen die Geräte auch einen Hochgeschwindigkeitsstörschreiber mit einer Aufzeichnungsrate von 40,96 kHz, sowie einen 10ms-RMS-Effektivwertschreiber. Somit ist eine detaillierte Auswertung von Netzstörungen möglich.
Die Netzanalysatoren erfassen Frequenzen bis 20 kHz für 4 x Spannung und 5 x Strom und erfüllen die Normauswertung nach IEC61000-4-7 für den Frequenzbereich 2 kHz bis 9 kHz welche Bestandteil der DIN VDE AR 4100 ist.
Die Spannung wird in der Niederspannung mit den Geräten direkt gemessen. So können parallel die Oberschwingungspegel von Strom und Spannung bis 20 kHz abgebildet werden.
Differenzstrommessung
Das PQI-DE ist mit einem fünften Stromeingang für eine kontinuierliche Überwachung von Differenzströmen (Residual Current Monitoring - RCM) ausgestattet. Es ist möglich, Ansprechschwellen für Alarmmeldungen oder Warnungen frei zu programmieren.
Auch hier finden Geräte der MBS AG Verwendung. Alle Differenzstromsensoren DACT und KBU XX D können bis 40 kHz problemlos eingesetzt werden.
Die Netzphänomene wie Oberschwingungen, die früher nur in Laboranwendungen detektiert wurden, sind endgültig in den Versorgungsnetzen angekommen. Neue Probleme sind entstanden. Einfache 50 Hz-Messungen reichen oft nicht mehr aus, um die volle Kontrolle über die Netze zu behalten.