erzlich Willkommen liebe Freunde der Schutz- und Leittechnik! In unserem neuen und spannenden Gastbeitrag bringt uns Thomas Schossig, die Welt der IEC 61850 an einem praxisnahen Beispiel etwas näher. Wir freuen uns riesig und übergeben das Wort an: Thomas Schossig!
IEC 61850 | In der Praxis
Was für eine Herausforderung, „etwas praxisnahes zur IEC 61850“ für SCHUTZTECHNIK.COM zu schreiben. Zwar ist der Standard IEC 61850 nicht mehr neu, (seit 2005 verfügbar) allerdings hat er noch nicht mal das Wort „Schutz“ im Titel. Der Standard heißt „Communication networks and systems for power utility automation“. Auf deutsch -wobei es nur einige wenige Teile zu einer Übersetzung geschafft haben- „Kommunikationsnetze und -systeme für die Automatisierung in der elektrischen Energieversorgung“.
Wir haben es also „nur“ mit einem Kommunikationsstandard zu tun. Enstprechend ist es die Idee dieses Beitrages, die Reise einer Schutzinformation vom Schutzgerät zur Leitstelle zu beschreiben. In diesem Beitrag und in der Norm nennen wir das Schutzgerät dabei mal nicht mehr „Relais“ sondern allgemeiner IED. IED bedeutet intelligent electronic device, also intelligentes elektronisches Gerät. Da die Intelligenz nicht nur für Schutzgeräte zum Einsatz kommt, sondern auch in Feldleitgeräten usw., beschreibt der Standard die Kommunikation für Schutz- und Leittechnik oder eben anders gesagt Stationsautomatisierungs-Systeme.
Unsere Meldung soll die Generalauslösung eines Schutzgerätes sein, das also, was in der guten alten Zeit auf Binärausgang 1 gelegt wurde, um eine Meldung abzusetzen oder ein Prüfgerät abzusteuern.
Nun hat so ein IED nicht nur eine Meldung zu verteilen, moderne multifunktionale Geräte bieten tausende Informationen an. Darum gruppiert der Hersteller des IEDs die Informationen des „Datenmodells“ in sogenannten logischen Geräten („logical device LD“).
Unser Hersteller hat sein Gerät nach Funktionen gruppiert. Wir erkennen ein Steuer- (CTRL), ein Mess- (MEAS) und Schutz- (PROT) Gerät.
Auf der Suche nach unserer Generalauslösung begeben wir uns ins LD PROT und sehen eine Vielzahl weiterer Elemente im Baum- die logischen Knoten (logical node LN). Die Vielzahl der logischen Knoten des Gerätes wirkt verstörend, erklärende, wenn auch englische Texte helfen aber. Struktur und Inhalt der logischen Knoten sind im Standard festgelegt, nur so erreiche ich die Interoperabilität, also dass verschiedene Hersteller miteinander kommunizieren können. Und so ist unsere Generalauslösung in der Welt der IEC 61850 und in allen IEDs ein PTRC – Protection Trip Conditioning. Der erste Buchstabe bezeichnet dabei immer die Hauptanwendung, also alle Schutzknoten beginnen mit P.
Unser Gerät verfügt über 3 verschiedene Generalauslösungen, wir sind zufrieden mit dem PTRC1, der ersten Instanz der Klasse PTRC in unserem IED. Um das mit den Klassen und Instanzen zu verstehen, hilft ein Blick weiter nach unten. Der Standard definiert eine Klasse PDIS für den Distanzschutz. Der konkrete Z1 in unserem IED mit Quadrilateralcharakteristik heißt QUAD_PDIS1, der Schluss auf Z2 sollte jetzt gelingen.
Somit entsteht ein großes Datenmodell mit jeder verfügbaren Information eines Gerätes.
Öffnen wir jetzt unseren Knoten für die Generalauslösung und wollen jetzt wirklich wissen ob das IED ausgelöst hatte, schauen wir in das Datenobjekt Op (für Operate =Auslösung). Das Attribut „general“ steht auf false (falsch).
Lassen wir das IED auslösen, wechselt der Wert erwartungsgemäß auf true (wahr) Der Zeitstempel indiziert die Adventszeit 2017.
Unser IED liefert eine Vielzahl von Informationen, das Datenmodell wird ständig aktualisiert.
Nun wird von so einem IED nicht nur die eine singuläre Information interessant sein, die Leitstelle wird sicherlich alle Auslösungen wissen wollen. Der Standard nennt eine solche Ansammlung von Informationen DataSet, der Systemingenieur dieses Systems hat alle Auslösungen zu einem solchen zusammen gefasst.
Diese Information wird mit einem Dienst der IEC 61850, dem sogenannten Report zur Leittechnik übertragen. Im Sinne der IEC 61850 ist die Leittechnik der Client der vom IED (Server) die Informationen bekommt. Nehmen wir also die Auslösung wieder zurück und stellen fest, dass die geänderte Information zur Leittechnik übertragen wurde.
Das Ganze wieder mit Zeitstempel und dies aus gutem Grund. Um die Leittechnik nur dann zu "belästigen" wenn sich etwas geändert hat, hat der Client ein Trigger-Kondition „data change“ definiert. Nur bei einer Änderung wird der Report übertragen.
Diese Client/Server-Kommunikation geschieht übrigens als Punkt-zu-Punkt Verbindung zwischen IED und Leittechnik. Diese Art der Dienste kommt auch für Steuerung (Control) und zum Beispiel Störschriebübertragung (File Transfer) zur Anwendung.
Wollen wir diese Schutzinformation jetzt wirklich auch für zeitkritische Aufgaben wie Mitnahmen oder gar Auslösung eines Leistungsschalters nutzen, können wir uns den Luxus einer bestätigten Client-Server-Kommunikation nicht mehr leisten. Hier muss etwas Neues, Schnelles her. Die GOOSE ist ein Generic Object Oriented Substation Event- etwas passiert in einer Anlage und muss übertragen werden.
Diese GOOSE wird als Multicast -also von einem IED an viele- unbestätigt versandt. Also haben wir wieder ein DataSet für die GOOSE. Unser System-Ingenieur baut sich eine GOOSE mit den Distanzschutzinformationen:
Dieses GOOSE wird nicht nur einmal übertragen sondern ständig. Das IED hat also den Status mit den Z1- und Z2- Auslöseinformationen bereits 15 Mal (siehe Sequenznummer) übertragen. Bei Änderungen erfolgt die Übertragung schnell und häufiger hintereinander, Leser mit Kindern werden das Verfahren zur Kommunikation mit dem Nachwuchs vielleicht kennen.
Wichtig: Jede Information mit Zeitstempel und Qualitätskennung „gut“.
Mit dem GOOSE-Verfahren können einfache Verriegelungen, Sammelschienenschutz via rückwärtige Verriegelung usw. realisiert werden.
Was bedeutet das für die Schutzprüfung?
Das Schutzprüfset sollte also in der Lage sein, dieses GOOSE zu empfangen und wie ein konventionelles Binärsignal zu behandeln. In unserem Fall mappen wir die Z1 Auslösung auf den Binäreingang Nummer 1 und führen die Schutzprüfung wie gewohnt durch.
Es bietet sich an, bei der Schutzprüfung auch gleich die Leittechnikkommunikation zu testen:
Wie man in dem Bild sieht haben wir den Report mit aktiviert und können ihn so mit testen. Dabei wird auch eine weitere Frage beantwortet: Wie erkläre ich meiner Leittechnik, dass diese Meldung jetzt nur während eines Tests auftrat und nicht regulär ist? IEC 61850 bietet dafür verschiedene Modi an. Das Gerät oder eine Einzelinformation kann in einen Modus „test“ (und andere) versetzt werden. Haben wir das getan, kann die Leittechnik diese Information entsprechend verwerfen. Zu diesem Thema kann man bei Gelegenheit einen extra Beitrag machen.
Einen extra Beitrag könnte man jetzt auch zum Thema Sampled Values machen. Hierbei werden Wandlerdaten mit dem GOOSE-Mechanismus als Multicast übertragen und stehen damit im gesamten Netzwerk zur Verfügung. Diese Technik ist international durchaus schon im Einsatz, in den deutschsprachigen Energieversorgungsunternehmen aber noch recht neu. Darum auch dazu erst in einem späteren Beitrag mehr.
Allerdings soll auch dieser Beitrag nicht ohne Zukunftsmusik ausklingen. Wer bis hierher gelesen hat, soll sehen, dass es mit der IEC 61850 auch ganz neue Möglichkeiten gibt. Das Datenmodell eines IEDs kann auch Schutzparameter enthalten. Das Ganze ist natürlich freiwillig oder, wie es die IEC 61850 nennt, „optional“. Im IED bzw. der Parametrierung kann der hier vorgestellte Mechanismus selbstverständlich ausgeschaltet, ausgeblendet oder blockiert werden. Wer sich aber auf das Gedankenspiel einlässt, freut sich vielleicht auch im Datenmodell Parameter zu finden. Im Beispiel ist das der Parameter X1. In IEC 61850 gibt es übrigens nur Primärwerte.
Wer jetzt denkt: „Oh Schreck, warum das“, denke vielleicht einmal über neue Möglichkeiten nach. Warum nicht einfach die Werte vor und nach der Prüfung dokumentieren? Warum nicht bei der Routineprüfung den Einstellwert automatisch mit checken? Es gibt viele Möglichkeiten. Mit der IEC 61850 sind Umschaltungen von Parametersätzen („Setting Groups“) möglich. Diese aktivieren vorgegebene und geprüfte Einstellsätze oder ermöglichen sogar das Schreiben von Parametern. Adaptive Schutzkonzepte werden möglich. Aber auch das ist ein anderes Thema.
Vielen Dank fürs Lesen bis hierher und viel Spaß mit und ohne IEC 61850.
Thomas Schossig
Schossig, Thomas
Seine berufliche Tätigkeit begann 1998 bei der VA TECH SAT GmbH in Waltershausen, zunächst als Projektingenieur für Leittechnik-Projekte, dann als Gruppenleiter Schutztechnik.
Seit 2006 ist er als Product Manager bei OMICRON electronics GmbH in Klaus (Österreich) beschäftigt. Im Business Development Power Utility Communication beschäftigt er sich mit Prüflösungen für die IEC 61850.Er ist Autor diverser Veröffentlichungen im Bereich Kommunikation in Schaltanlagen bzw. Schutzprüftechnik und Mitglied von Normungsgruppen. Sein aktuelles Werk ist die Neuauflage des Fachbuches: Netzschutztechnik (siehe unten).
Kontakt: thomas.schossig@omicronenergy.com