ERZlich Willkommen, liebe Freunde der Schutz-, Leit- und Elektrotechnik. In unserem neuen Beitrag zeigt uns André, wie die zulässige Abschaltzeit für Mittelspannungskabel ohne Netzberechnung abgeschätzt werden kann.
Viel Spaß beim Sehen oder Lesen,
Das SCHUTZTECHNIK-TEAM euer ENGINEERING ACADEMY®
Lesebeitrag unter dem Video!
Bemessung Leiterquerschnitt im Kurzschlussfall
Wir wollen uns heute dem Thema der zulässigen Abschaltzeit von MS-Kabeln im Fehlerfall widmen bzw. wie wir praktisch überprüfen können, ob die eingestellten Verzögerungszeiten und angeschlossenen Kabel im Leitungsabgang ausreichend dimensioniert sind, mit der Besonderheit, wie wir dies ohne aufwendige Netzberechnung prüfen können.
Zunächst ein kurzer Exkurs in die Theorie mit der Frage:
Warum dürfen Kabel nur für eine begrenzte Zeit im Fehlerfall vom Kurzschlussstrom durchflossen werden?
Dies hängt damit zusammen, dass der Kurzschlussstrom bei Kabeln zu drei verschiedenen Effekten führt, welche vermieden werden sollen:
🌐 Erwärmung der stromdurchflossenen Komponenten wie Leiter, Schirm, Metallmantel und Bewehrung, sowie der angrenzenden Isolier- und Schutzhüllen.
Der Kurzschlussstrom, welcher den Leiter durchfließt, führt zu einer sehr starken Erwärmung; die Höhe der zulässigen Erwärmung hängt vom verwendeten Isolierstoff des Leiters ab, im betrachteten Fall ist der Aluminium-Leiter durch Vernetztes Polyethylen, kurz VPE, isoliert.
Eine zu hohe Leitererwärmung reduziert die Alterungsbeständigkeit des Kabels oder kann die Isolierung teilweise oder komplett zerstören.
Daher muss die Dauer des Kurzschlussstroms zeitlich begrenzt werden, um die zulässige Kurzschlussstrombelastbarkeit des Kabels einzuhalten.
Weiterhin führt der Kurzschlussstrom zu folgenden Effekten:
🌐 Thermomechanische Belastungen durch die resultierende Wärmeausdehnung
🌐 und elektromagnetische Kräfte zwischen den Leitern
Der Fokus soll heute aber auf der thermischen Erwärmung des Leiters im Kurzschlussfall liegen.
Wie kann also die thermische Festigkeit eines Kabels bestimmt werden?
Grundsätzlich gilt, dass der Leiterquerschnitt im Kurzschlussfall so bemessen sein muss, dass der thermisch wirksame Kurzschlussstrom (Ith) kleiner als die zulässige thermische Kurzschlussstrombelastbarkeit (Ithz) im Kurzschlussfall ist.
Die thermische Kurzschlussstrombelastbarkeit kann anhand des Kabeltyps, dessen Querschnitts und der bekannten Schutzeinstellwerte mithilfe der dargestellten Formel ermittelt werden.
Hierbei ist q der Leiterquerschnitt, Jthr die Bemessungs-Kurzzeitstromdichte, welche aus Tabellen entnommen werden kann. Diese sind auf eine Dauer von 1 s bezogen, daher wird für den Wert Tthr immer eine Sekunde eingesetzt.
Ist die tatsächliche Fehlerklärungszeit tk kleiner als 1 s, können die Kabel demzufolge mit einem höheren Kurzschlussstrom thermisch belastet werden. Bei größeren Abschaltzeiten als einer Sekunde ergeben sich geringere zulässige Kurzschlussströme.
Hierbei ist aber darauf zu achten, dass sich die Fehlerklärungszeit anhand der eingestellten Verzögerungszeit der Kurzschlussstufe, der Eigenzeit des Leistungsschalters und der Kommando- bzw. Relaisverzögerungszeit ergibt.
Die Eigenzeit meint hierbei die mechanische Öffnung des LS-Schalters. Abhängig vom Leistungsschalter und dem Schutzrelaistyp resultieren minimale Fehlerklärungszeiten, typischerweise im Bereich von 70 bis 150 ms.
Soll das Kabel thermisch kurzschlussfest unter Berücksichtigung des Reserveschutzes ausgelegt werden, muss dessen Verzögerungszeit anstelle der des Hauptschutzes genutzt werden.
Die Bemessungs-Kurzzeitstromdichte kann aus der dargestellten Tabelle entnommen werden.
Sofern nichts anderes bekannt ist, wird als maximale Leitertemperatur die maximal zulässige Betriebstemperatur gewählt. Bei VPE isolierten Kabeln 90° C bei PE isolierten Kabeln 70° C. Die Bemessungs-Kurzzeitstromdichte ist in A/mm2 gegeben. Die thermische Kurzzeitstrombelastbarkeit des Kabels steigt also linear mit dessen Querschnitt.
Bei abweichenden Kurzschlussdauern muss der Wert für die Kurzschlussdauer tk entsprechend angepasst werden.
Die maximal zulässige Kurzschlussdauer beträgt 5s. Innerhalb dieser Zeit wird davon ausgegangen, dass keine signifikante Wärmeabgabe des Leiters an die umgebende Isolierung stattfindet; er verhält sich also wie ein Kondensator, welcher thermisch aufgeladen wird.
Berechnungsbeispiel
Anhand des Kabeltyps und der eingestellten Verzögerungszeit des Schutzrelais, kann die thermische Kurzschlussstrombelastbarkeit ermittelt werden.
Gegeben ist ein VPE-Aluminiumleiterkabel mit einem Leiterquerschnitt von 240 mm2 und einer zulässigen Abschaltzeit von 450 ms, welche sich aus einer eingestellten Verzögerungszeit von 300 ms und zusätzlich 150 ms aufgrund der Eigenzeit des Leistungsschalters sowie der Relaisverzögerungszeit ergibt. Wir gehen also von einer maximalen Fehlerklärungszeit von 450 ms aus. Es wird ersichtlich, dass die Netzspannungsebene als auch die Art der Verlegung keinen Einfluss auf die Kurzschlussstrombelastbarkeit besitzen.
Aus der Tabelle kann die Bemessungs-Kurzzeitstromdichte von 94 A/mm2 entnommen werden. Für VPE-Kabel liegt die zulässige Kurzschlusstemperatur bei 250° C, im ungestörten Betrieb sind 90° C Leitertemperatur zulässig; anders ausgedrückt darf sich unser Kondensator während des Kurzschlusses um 160° C erwärmen.
Ist aufgrund einer geringeren Auslastung des Kabels die Leitertemperatur geringer als 90 °C vor Beginn des Kurzschlusses, kann auch ein höherer Wert für die Bemessungs-Kurzzeitstromdichte angesetzt werden. Die Ermittlung der Leitertemperatur aufgrund der Vorbelastung und der Umgebungsbedingungen ist aber nicht trivial.
Setzen wir die Werte in die bereits bekannte Formel ein, ergibt sich eine thermische Kurzschlussstrombelastbarkeit von 33,6 kA für die Fehlerklärungszeit von 0,45 s.
Würden wir anstelle der 0,45 s eine Fehlerklärungszeit von 1 s zulassen, reduziert sich die thermische Kurzschlussstrombelastbarkeit auf 22,6 kA.
Wie groß ist aber der thermisch gleichwertige Kurzschlussstrom Ith?
Entsprechend der DIN VDE 0102 muss dieser berechnet werden.
Hierfür ist in der Regel ein Berechnungsprogramm notwendig, da dieser aufgrund seines abklingenden Gleichanteils zeitabhängig ist.
Für eine korrekte Berechnung im betreffenden Netzabschnitt müssen bspw. Generatoren und direkt angetriebene Motoren berücksichtigt werden.
Befinde ich mich aber in einer Bestandsanlage und möchte die bestehenden Zeiteinstellwerte grob auf Plausibilität überprüfen oder ändern, ohne im ersten Schritt eine aufwendige Berechnung durchzuführen, kann folgendes Vorgehen angewendet werden.
Für eine überschlägige Betrachtung kann als Worst-Case-Variante der Bemessungs-Kurzschlussausschaltstrom der vorgelagerten MS-SA herangezogen werden und gleich dem thermisch gleichwertigen Kurzschlussstrom gesetzt werden.
Die Tabelle zeigt die typischen normierten Kurzschluss-Bemessungsgrößen von MS-Schaltanlagen. In dieser sind die Werte für den Bemessungs-Stoßkurzschlussstrom, den Bemessungs-Kurzzeitstrom sowie den zugehörigen Bemessungs-Kurzzeitausschaltstrom angegeben.
Für das betrachtete Beispiel gilt, dass die vorgelagerte Schaltanlage einen maximalen Bemessungs-Kurzschlussausschaltstrom von 31,5 kA besitzen darf.
In der Regel ist in den Kabeldatenblättern auch die zulässige Kurzschlussstrombelastbarkeit der Kabel angegeben; in der gezeigten Tabelle sind die typischen Werte für VPE-Mittelspannungskabel in Abhängigkeit des Leiterquerschnitts angegeben.
Für einen schnellen Überblick, welcher minimale Leiterquerschnitt in Abhängigkeit des Bemessungs-Kurzschlussausschaltstrom der vorgelagerten Schaltanlage zulässig ist, kann die bereits bekannte Formel für die zulässige Kurzschlussstrombelastbarkeit nach dem Leiterquerschnitt q umgestellt werden.
Die Fehlerklärungszeit hängt von den eingesetzten Betriebsmitteln ab und kann während einer Schutzprüfung auch praktisch ermittelt werden.
Es ergeben sich die folgenden beiden Tabellen für Aluminium- und Kupferleiter.
Bei einer 20 kA Schaltanlage und einer Kurzschlussdauer von 0,4 s sollte das eingesetzte VPE-Aluminiumleiter-Kabel einen Querschnitt von mindestens 135 mm2 aufweisen bzw. den nächsthöheren Nennquerschnitt von 150 mm2.
Ist dies nicht der Fall, muss die Verzögerungszeit des Schutzrelais angepasst oder eine genauere Netzberechnung durchgeführt werden, in welcher sich kleine Kurzschlusswerte ergeben sollten, da sonst die Auslegung der MS-SA ebenfalls fragwürdig wäre.
Die nachfolgende Tabelle ist identisch aufgebaut und zeigt die minimalen Leiterquerschnitte für Kupferleiter.
Betrachten wir zum Vergleich wieder eine 20 kA Schaltanlage bei einer Kurzschlussdauer von 0,4 s, muss der Leiterquerschnitt mindestens 88 mm2 betragen bzw. dem nächsthöheren Nennquerschnitt entsprechen.
Das war es dann auch schon gewesen. Falls Ihr Fragen oder Anregungen habt, schreibt dies in die Kommentare oder schickt uns direkt eine E-Mail. Abonniert gern unseren Kanal und wir freuen uns weiterhin auf Eure Unterstützung, alles Gute und bis zum nächsten Mal!
Euer SCHUTZTECHNIK-TEAM
PS.: Hochwertig Vor-Ort-Trainings zu diesem Thema erhaltet Ihr bei unserer ENGINEERING ACADEMY. Die beiden folgenden Themen können wir empfehlen.
"Wirtschaftliche Dimensionierung von Mittelspannungskabeln - Intensivseminar"
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